Bibliographie

Rezensionen



Eva Menasse
Ulrich Bechers "Murmeljagd" war eines der größten Leseerlebnisse meines Lebens. Das mag Zufall sein, weil Bücher einen in bestimmten Lebenslagen mehr "erwischen" als sie es in anderen gekonnt hätten, und es mag perfektere Romane geben als dieses Buch. Doch meine erste Lektüre werde ich nie vergessen. Ich war neunzehn, und Ulrich Becher hat mir buchstäblich den Schlaf geraubt. Ich lag nachts wach, verbot mir aber, weiterzulesen, denn die Faszination sollte kein Ende nehmen, dieses Buch sollte niemals aufhören.
Ich war in den ramponierten Trebla verliebt, ich wollte so schön und fragil wie Xane sein. Ich Hundephobikerin wünschte mir heftig einen schwarzen Spaniel mit "Allongeperückenohren". Ich bangte um das Leben des "Avvoccato Wauwau" – dass es bei seinem Alkoholkonsum kein gutes Ende nehmen würde, schien mir von Anfang an klar.
Und trotz aller Identifikationsversuche, die für junge Leser so typisch sind, ist mir schon damals die politische Wucht des Romans nicht entgangen, Bechers Erzählen aus dem bedrohlich stillen Auge des Orkans. Wie winzig und verwundbar war doch die Schweiz, umgeben vom mörderischen Faschismus! Trebla, im pittoresken Pontresina, war in Sicherheit und saß doch in der Falle. Denn Sicherheit hat auch einen quälenden Aspekt: Wer endlich nicht mehr rennen muss, wer Luft holen kann, hat mehr seelische Angriffsfläche für die entsetzlichen Nachrichten aus der Heimat. Da kann einer schon paranoid werden. Und auch diese Ohnmacht des Flüchtlings, der im Trockenen sitzt und sich schämt, nichts tun, niemandem helfen zu können - all das verspürt, wer dieses Buch liest, am eigenen Leib. So etwas können nur Bücher, das kann kein Film.
Ich habe die "Murmeljagd" seither viele Male wiedergelesen und immer Neues entdeckt. Es bleibt ein gewaltiges, wuchtiges Buch, in dem wieder ein Hauptsatz der Literatur bewiesen wird: Das tiefste Erschrecken liegt, wenn überhaupt, ganz dicht neben dem Lachen. Nur wer, wie Becher, der Katastrophe noch ihre Grotesken abzulauschen versteht, vermag den Leser wahrhaft zu erschüttern. Vielleicht führt nun Ulrich Bechers hundertster Geburtstag endlich dazu, dass dieser Roman gebührend wiederentdeckt wird. Dazu ist jedes Mittel recht, auch zufällige Zahlenmagie.
(Eva Menasse, Schriftstellerin 2009)


Alfred Stary
Anlässlich des 100. Geburtstages von Ulrich Becher machte der Schöffling-Verlag das Opus magnum des Autors, den 700-Seiten-Roman "Murmeljagd", wieder zugänglich, ein Generationen und Länder übergreifendes, pralles, vielschichtiges Werk von zeitloser Qualität, das nicht nur des brisanten Inhalts wegen aufwühlt, sondern auch formal ungemein lebendig und modern auftritt. Trotzdem geht der junge und ambitionierte Verlag mit dieser Neuauflage ein nicht geringes Wagnis ein. Was früher als unternehmerische Tugend galt, ist ja in Zeiten erbarmungsloser Verdrängungskämpfe auf dem Buchmarkt zur Ausnahmeerscheinung geworden, der man mithin nur Respekt zollen kann. Ob das Buch heute seine Leser findet, ist angesichts der tiefen Vergessenheit, in die Becher und sein Werk versunken sind, leider fraglich, so wünschens- und lohnenswert eine Wiederentdeckung zweifellos ist.
Als "Uli" Becher 1969 nach elfjähriger Arbeit - Vorarbeiten reichen sogar zurück bis in die 1940er-Jahre - diesen Roman bei Rowohlt herausbrachte, wurde er zwar von Seiten der Kritik durchaus zustimmend aufgenommen, auch ins Französische und 1977 ins Englische übersetzt, aber einen Verkaufserfolg konnte er damit nicht erzielen. Die Thematik war einfach nicht mehr chic, die eigenwillige Erzählweise stand quer zu allen literarischen Strömungen. Die lesende Öffentlichkeit interessierte sich für die "Gruppe 47" und Handkes werbewirksame Publikums- und Kollegenbeschimpfung, sofern sie nicht restaurativ gewissen erdigen, nun wieder christlichen Autoren die Treue bis in den Tod hielt. Emigranten, insbesondere solche der jungen Generation, die bei der NS-Machtübernahme am Beginn ihrer Karriere gestanden und noch nicht über einen großen Namen verfügt hatten, wurden auf leise Art abermals zu "Vertriebenen". Man wollte vorwärts blicken und fand es an der Zeit, mit zunehmendem Wohlstand auch die Trümmerliteratur zu entsorgen. Die sehr realistische Nazi-Vergangenheit und Exilproblematik wurde zugunsten einer Ästhetik-Debatte über die Erzählbarkeit der Welt ins Abseits gedrängt. Becher, ein unverdrossen "realistischer" Erzähler, Jargon-Schnüffler, Stimmungs- und Figuren-Schnellzeichner, eine schreibende Kamera und ein verblüffender Stimmenimitator (wie der mit ihm eng befreundete Helmut Qualtinger), saß wieder einmal zwischen allen Stühlen.
Stilistisch zwischen Expressionismus, Hemingway und Dos Passos, als Angehöriger einer Zwischengeneration, als Mehrfachtalent (er war Zeichen-Schüler von George Grosz, spielte mehrere Instrumente und verfügte über ein absolutes Gehör), politisch links und parteilos (zwischen Urchristentum, Kommunismus und Anarchie pendelnd), gehörte er während und nach der Emigration nirgends richtig dazu. Er war immer auf dem Sprung. Jahrzehnte nach dem Krieg lebte er im friedlichen Basel, der Stadt zwischen Schweiz, Deutschland und Frankreich, in provisorischen Unterkünften mit griffbereiten Koffern. Im Ineinander von Vorläufigkeit und Nachträglichkeit war und blieb er heimatlos zu Hause, das Zwischen war sein Ort.
Geboren 1910 in Berlin, aufgewachsen in großbürgerlichen Verhältnissen, der Vater ein einflussreicher Anwalt, traf er im Salon der kunstsinnigen Mutter, einer Schweizer Pianistin, auf Prominenz aller Art, während der den Jungen stark prägende Großvater, ein Abenteurer und Sozialist, den Jungen in die Fabriken und Arbeitersiedlungen mitnahm. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verließ er Deutschland und wurde durch Heirat Österreicher. Sein Schwiegervater war der überaus populäre k. u. k. Kabarettist und Erfolgsschriftsteller Alexander Roda Roda, dem Becher mit der Figur des Konstantin Giaxa in der "Murmeljagd" ein Denkmal setzte. Knapp vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich folgte das junge Paar den Eltern in die Schweiz. Obwohl Ulrich Becher mütterlicherseits halber Eidgenosse war, wurde er als Flüchtling betrachtet und musste das Land 1941 verlassen. Auf abenteuerliche Weise verschlug es ihn für drei Jahre nach Brasilien. Hier schrieb er Gedichte und Artikel für Emigrantenzeitschriften, bis endlich das Visum zur Einreise in die USA eintraf. 1948 kam er aus New York nach Wien zurück, wo mit großem Erfolg seine mit dem Schauspieler Peter Preses in den Vereinigten Staaten von Amerika geschriebene tragische Posse "Der Bockerer" uraufgeführt wurde. Becher etablierte sich in den folgenden zehn Jahren als gefragter Theaterautor, doch ein eklatanter Flop trug dazu bei, dass er sich wieder der Prosa zuwandte und das lange aufgeschobene Romanprojekt in Angriff nahm.
Zum Inhalt: Trebla, altösterreichischer Aristokrat, ein Letzter in langer Linie wie Joseph Roths Trotta, im Ersten Weltkrieg Kampfflieger, während des Austrofaschismus überzeugter Sozialist, entkommt der "Gleichschaltung" der Ostmark durch eine tollkühne Flucht auf Skiern über die Silvretta in die Schweiz. Seine Frau Xane, die mit der befreundeten Schauspielerin Pola Polari und deren holländischem Ehemann Joop ten Breukaa, einem ebenso reichen wie langweiligen Kunstsammler, mit dem Zug gerade noch rechtzeitig ausgereist ist, erwartet ihn hier. Sie nehmen ein sehr bescheidenes Quartier in Pontresina, während die Ten Breukaas in der eigenen Villa residieren, wo man sich trifft, streitet, Mut zuspricht und zu Ausflügen aufbricht, anfangs ganz in der Manier unbeschwerter Feriengäste. Diese vier Wochen "Kur" im Oberengadin bilden den Erzählrahmen, der von Rückblenden und Parallelmontagen aufgebrochen wird, die ihrerseits 40 Jahre umfassen.
Doch etwas ist faul im Staate, die Idylle der neutralen Schweiz wird zunehmend unheimlich, ja, feindlich. Mag sein, dass die Nachrichten von ermordeten Freunden, von Nazi-Gräueln, von Transporten und Konzentrationslagern, dazu Treblas Erinnerungen an die eigenen traumatischen Kriegserlebnisse, die eintreffenden Berichte vom Spanischen Bürgerkrieg und schließlich der Tod von Xanes Vater zu einer anwachsenden Paranoia führen. Liegt die Gefahr nur im Auge des Betrachters? Eine Serie seltsamer Unfälle macht auch hier, in der Sicherheit des Exils, den Tod allgegenwärtig. Der Anwalt Gaudenz de Colana und der Druckereibesitzer Zarli Zuan ertrinken. War es Mord, Unfall oder Selbstmord? Ein Soldat erschießt sich, nachdem er beinahe einen Vorgesetzten getötet hat. Ein zurückliegender Jagdunfall, bei dem der Wirt Men Clavadetscher die Hände im Spiel hat, sorgt zusätzlich für Verunsicherung. Zwei blonde Österreicher scheinen auf Trebla angesetzt zu sein, um ihn zu liquidieren. Es gilt, ihnen zuvorzukommen und sich vom Gejagten zum Jäger zu wandeln.
Der Name des Ich-Erzählers der "Murmeljagd" ist selbst Sinnbild für dieses - fast - undurchdringliche Ineinander von Wahn und Wirklichkeit, in das der Exilant ohne gültige Papiere gerät: Albert Trebla ist ein Palindrom, ein und dasselbe Wort, einmal richtig, einmal verkehrt herum gelesen. Das verweist auf die zentralen Fragen des Romans: Wie verlässlich sind unsere Sehweisen der Wirklichkeit? Wo gibt es Sicherheit, wo kann man sich verstecken, darf man seinem Gefühl noch trauen? Es geht dem Protagonisten wie den Murmeltieren, die ständig aufhorchen, um beim leisesten Anzeichen einer Gefahr in Deckung zu gehen: "Ich wurde gejagt. Nicht wissend, von wem. [...] Ich war ein unseliges einsames unbewehrtes abgehetztes Murmelmenschlein, allein und elend auf weiter Flur, allein mit meinem wesenlosen Verfolger." [S. 156f.]
Becher verzichtet hier auf Kommata zwischen den Attributen nicht etwa zufällig. Er setzt seine Zeichen sehr überlegt. Es geht ihm dabei nicht um eine Aneinanderreihung von Synonymen, die austauschbar sind, vielmehr will er ein Viereck von Befindlichkeiten skizzieren, die das "Murmelmenschlein" unentrinnbar umzäunen. Immer greift diese Prosa aus, tastet die Erfahrungsräume des Bildnerischen, Dramatischen, Musikalischen, Filmischen ab nach erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten fürs Schreiben. Keineswegs handelt es sich bei Becher um einen Nachzügler, wie Teile der zeitgenössischen Kritik vermutet haben. Seine ästhetische Eigenwilligkeit hat von sich aus und bis heute Bestand. Vieles erscheint nachgerade als Vorgriff auf postmoderne Gestaltungsweisen.
Das Riesenrad auf dem Schutzumschlag dieser auch wegen ihrer Augenfreundlichkeit einzigartigen Neuauflage ist sehr passend gewählt, denn der Wiener Prater ist eines der Zentralmotive des Romans. Zwei der fünf Bücher, aus denen sich die "Murmeljagd" zusammensetzt, führen die "Geisterbahn" im Titel an. Sie ist das Sinnbild für das Lebensgefühl der Exilierten. Angetrieben von unsichtbaren Kräften, unterwegs auf Schienen der Bürokratie, wartet an jeder Ecke ein neuer Schrecken. Geister der Vergangenheit und der Horror der Gegenwart verfinstern die Welt. Jedes Entkommen ist vorläufig. Der lärmende Prater mit seinem falschen Glitzer, mit Schießbudenfiguren allerorts, mit der Ausweglosigkeit im Spiegelkabinett, wo Grauen dem lächerlichen Kasperltheater folgt, macht augenfällig, womit das "Zeitalter der Illusionsfabrikanten" grausam ernst macht und jede Erfahrungswirklichkeit zum "Kaffee Hag" werden lässt, "Kaffee, in dem kein Kaffee drin ist, der aber schmeckt wie Kaffee". [S. 303]
Bechers unbändiges, farbenfrohes Ja zum Leben, allem Rauch und Nebel zum Trotz, seine militante Wut gegen alles Totmachende (die Atombombe erschien ihm als Fortentwicklung der Hitlerei) dürfte mit dazu beigetragen haben, dass er sich sowohl in seinen Theaterstücken wie auch in der Prosa und besonders in der "Murmeljagd" nicht gerade als ein Meister im Gestalten des Schlusses erwies. Viele retardierende Momente halten gegen Ende des Buches den neugierigen Leser, der längst schon mehr weiß als der Erzähler, über Gebühr hin. So gekonnt Ulrich Becher mit dem Genre des Kriminal- und Schauerromans auch spielt, hier, im völligen Mangel des Killerinstinkts gegenüber seiner eigenen Schöpfung, zeigt sich, dass er auch den Erfordernissen der Kunst nicht alles opfern wollte. Ohne es auszusprechen, lobte er unablässig das Leben. Bei aller gebotenen Unsentimentalität, Trauer, Auflehnung sah er die Welt mit den glücklichen Augen des Vitalisten.
Aber wer Leben und Bücher nicht vom Ende her legitimiert, der spürt in der "Murmeljagd" eine unvergessliche Jugendlichkeit und eine packende Erzählkraft - und lebt mit.
(Alfred Stary; 11/2010; Erstveröffentlichung unter www.sandammeer.at)



Michael Maar
Hunde können, anders als Pferde, lächeln. Pferde wiederum können, anders als Hunde, laut lachen. Das erfährt man aus Ulrich Bechers Murmeljagd, dem 1969 erschienenen Roman eines fast vergessenen Granden, der seine Zeitgenossen, mit Ausnahme Arno Schmidts, sämtlich unter den Tisch schrieb. Welches Rezeptionspech ist daran schuld, daß dieser Abend heute nötig ist? Wie konnte das passieren?!

Nun, es hat schon auch etwas mit dem verschlungenen Lebensweg des Autors zu tun. Geboren 1910 in Berlin als Sohn eines Rechtsanwalts und einer Schweizer Pianistin, früh Sozialist, war Becher einer der Jüngsten, dessen Bücher verbrannt wurden, nämlich sein Erstling des schönen und nicht erlogenen Titels Männer machen Fehler. Nach diesem allzu warmen Empfang seines literarischen Debuts übersiedelt Becher als Gatte der Tochter Roda Rodas, des in Österreich berühmten Satirikers, nach Wien. 1938 Flucht in die Schweiz, zwei Jahre später über Frankreich nach Brasilien, wo er Farmer wird, später New York, wo die Schwiegereltern leben, und 1948 zurück nach Europa. In Österreich erfolgreicher Theaterautor, 1990, fast vergessen, in Basel verstorben. Und dann dieses eine singuläre Buch Murmeljagd.

Meine Damen und Herren, ich habe, wie vermutlich die meisten von Ihnen, diesen Autor bis vor zwei Jahren noch nicht einmal namentlich gekannt. Es bedurfte sanften weiblichen Drucks, damit ich diese Bildungslücke schloß. Die Leserin meines Vertrauens erklärte mir, es sei ihr Lieblings- und Leib-und-Magen-Buch, es gäbe eine kleine, aber verschworene Gemeinde und jeder, der in einer fremden Wohnung ein Exemplar der Murmeljagd in der Bibliothek erspähe, fühle sich mit dem Besitzer wie durch einen geheimen freimaurerischen Händedruck verbunden. Ich müsse es einfach lesen.

Widerstand war zwecklos. Ich nahm und las. Und seitdem quält mich jene Frage. Murmeljagd ist ein Buch, das in seinen Landschaftsschilderungen, den Dialogen, den Figurenporträts, im dunklen Witz und in seiner Sprachgewalt so turmhoch alles überragt, was sonst in der Zeit erschien, daß man vor Entzücken verzweifelt: Warum ist das nicht Schullektüre?

Es gibt hier, meine ich, drei äußere Gründe und einen vierten, innerästhetischen.

Um mit dem banalsten Grund anzufangen: Er hatte Pech mit seinem Namen. Wenn er sich wie sein Schwiegervater Roda Roda genannt hätte, wäre er vielleicht bekannter geworden. Aber Becher – dieser Name war schon vergeben. Becher war der berühmte, wenn auch wenig gelesene Johannes R. Becher, der expressionistische Dichter und spätere Kulturminister der DDR, der auch den Text ihrer Nationalhymne verfaßte.

Der zweite Grund war, daß sich kein Land so recht für diesen Becher zuständig fühlte. Ulrich Becher war in Berlin geboren, er hatte in Wien gelebt, er war seit dem Exil tief in der Schweiz verwurzelt und lebte ab 1954 in Basel: Das war nicht günstig, keiner konnte ihn für sich reklamieren, keiner für ihn Reklame machen, die Deutschen dachten, er sei doch Österreicher, die Österreicher spielten zwar sein Stück „Der Bockerer“, dessen Verfilmung populär wurde, dessen Verfasser sie deshalb aber noch lange nicht präsent hatten. Und die Schweiz: Da blieb man leicht auch nach 25 Jahren noch einer von Draußen. Wobei Becher es, wie Nabokov nur im Hotel lebend, vielleicht auch gar nicht anders wollte.

Der dritte Grund: Er fiel zwischen alle Stühle. Er war zu früh und zu spät. Murmeljagd erschien 1969. Es war nicht die Zeit, in der man Romane über bedrohtes Exil in der Schweiz und Nazis in Österreich und Todeslager in Dachau verschlungen hat – noch nicht oder nicht mehr. Heinrich Böll und Günter Grass schrieben über Malaisen der Bundesrepublik. Die Studenten probten den Aufstand. Ähnlich wie Leo Perutz, dessen Spätwerk in Österreich keinen Verleger mehr fand, weil man sich nicht von einem jüdischen Exilanten an gewisse Schandtaten der jüngsten Vergangenheit erinnern lassen wollte, so ähnlich erging es auch Ulrich Becher mit seiner Murmeljagd. In Deutschland erschien ein ebenso brillanter wie ungerechter Verriß von Martin Gregor-Dellin in der ZEIT. Und das war es dann so ziemlich. Erst zum hundertjährigen Geburtstag Bechers legte der Schöffling Verlag sein Hauptwerk wieder auf.

Nun sei aber der vierte mögliche Grund für Bechers Fast-Vergessenheit nicht verschwiegen. Der Roman beginnt sperrig, er ist im Grunde auf Zweitlektüre angelegt. Der Leser steigt schwer ein, er weiß nicht, wo er sich befindet, er kennt die Figuren und Zusammenhänge noch nicht, er muß sich an die ganz eigene, ungewöhnliche, polyglott schimmernde, fast überreich barock sprudelnde Sprache erst gewöhnen.

Ich gestehe, ich habe am Anfang öfter halblaut geflucht. „Kann der nicht einmal einen normalen Satz schreiben?“ Aber bald wich das halblaute Fluchen lauten Ausrufen der Bewunderung. Wer die ersten vierzig Seiten überstanden hat – und ich bitte Sie inständig, geben Sie nicht vorher auf! –, der ist diesem Buch verfallen. Aber was erzählt es uns nun? Was Heimito von Doderer ganz allgemein über den Roman sagt, trifft auf Murmeljagd ganz besonders zu: Ein Werk der Erzählkunst sei es umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben könne.

Dennoch mögen ein paar Sätze andeuten, worum es geht. Ich zitiere hier, weil ich’s nicht besser ausführen könnte, aus dem Becher-Essay von Eva Menasse, bei welcher es sich um besagte strenge Ratgeberin handelt:

ZITAT
Halten wir fest: Bechers Figuren und Szenen sind unvergeßlich. Unvergeßlich der immer betrunkene Advokat de Colana mit der Schar seiner sabbernden Spaniels. (Hunde, die bekanntlich lächeln können, sind überhaupt die heimlichen Hauptfiguren der Murmeljagd.) Unvergeßlich die kurvigen Autofahrten und die Kneipengelage; der unsichtbar ansteigende Angst-Pegel; das allmähliche Abgleiten ins Irreale; das Rätsel um Trebas Frau Xane. Oder die Szene vom Sex auf dem Bergfriedhof – ja, so schaurig und geschmacklos das klingt, so delikat und zärtlich ist es ausgeführt. Der Zug-Transport der jüdischen und kommunistischen Häftlinge von Wien nach Dachau – unvergeßlich. Unvergeßlich der letzte Ritt des Roda-Roda nachgebildeten Zirkusartisten im KZ – allein für diese Szene hätte Becher den Büchnerpreis verdient, den er natürlich nie bekam; wie gesagt, es fühlte sich keiner zuständig.

Das Plotgewebe, wie man schon bei der ersten Lektüre merkt, ist meisterhaft, nichts ist dem Zufall überlassen, jedes Detail zählt, lange Handlungsfolgen werden durch winzige Trigger ausgelöst. Es ist ein im Doppelsinn ungeheures Vergnügen, diese Schicksals-Feinmechanik, man denkt an Schweizer Uhren, zu studieren. Zum Beispiel muß es einmal ein roter italienischer Schaumwein und nicht ein weißer sein, der auf einem Kleid verschüttet wird, damit die Handlung ihren verwickelt logischen Gang nehmen und eine Figur in den unverdienten Tod führen kann.

Unverdient, meine Damen und Herren, ist auch das literarische Nicht- oder Kaum-noch-Nachleben dieses großen, wilden Autors, von dem uns jetzt Michael Walter etwas vortragen wird. Ihnen nur zum Abschluß meine eindringliche Bitte: Nehmt und lest!
(Michael Maar, Schriftsteller und Literaturkritiker 2019)



Michael Hübl
Über Ulrich Becher heißt es, sein Werk sei, nachdem er gestorben war, in „eine Phase des stetigen Abgleitens in die Vergessenheit“ geraten. Anlässlich seines 100. Geburtstags hat sich das gebessert, wie nicht zuletzt eine Neuauflage von Bechers Roman „Murmeljagd“ zeigt. Jetzt, rechtzeitig zum 30. Todestag am 15. April, liegt der Text wieder in einer neuen Ausgabe vor - diesmal ergänzt um einen Essay der Schriftstellerin Eva Menasse mit dem Titel „So lacht die Hölle“. Das Inferno, auf das sie anspielt, hat der Autor bereits hinter sich, als ,,Murmeljagd“ 1969 erscheint. Im Roman steht es noch bevor. Genauer: Es wächst heran, frisst sich wie eine wuchernde Krankheit an sämtlichen Nervenenden fest. Er habe, schrieb Ulrich Becher an seinen Bruder Rolf, „die Fetten Sieben Jahre des Hitlerregimes“ ins Visier nehmen wollen, eine Phase, die seiner Ansicht nach in der Nachkriegsliteratur vernachlässigt wurde. In der „Murmeljagd“ beschränkt sich Becher auf einen Monat. Er schildert, wie es Albert von „Man-weiß-nicht-wie“ (der Name seines Adelsgeschlechts wird nicht erwähnt) zwischen dem 23. Mai und dem 22. Juni 1938 ergeht. Während des Ersten Weltkriegs hat er in der k.u.k. Luftwaffe gedient, ist schwer verletzt worden. In der Republik Österreich, Erbin des zusammengebrochenen Habsburgerreichs, wendet er sich dem Sozialismus zu. Jetzt, nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland, sieht er sich von der Gestapo verfolgt und flieht in die Schweiz. Im Engadin richtet sich Albert oder Trebla, wie man ihn in Umkehrung der Buchstabenfolge gerne ruft, ein. Davos, der Schauplatz von Thomas Manns „Zauberberg“, ist nicht weit. Tatsächlich ähnelt die „Murmeljagd“ Manns Roman insofern, als auch hier eine latent bedrohliche, stellenweise nachgerade surreale Atmosphäre herrscht. Nur, dass die Schilderungen Bechers plastischer, drastischer, dramatischer sind, Auch dem Schrillen, Burlesken oder Dämonischen räumt der Autor zwischendurch gehörig Raum ein: Man meint zu verstehen, warum der Dadaist George Grosz den musisch mehrfach begabten Rechtsanwaltssohn zu seinem einzigen Meisterschüler machte. Albert/Trebla ist ein politisch Verfolgter, aber er ist auch ein Hallodri. Politisch verfolgt war auch Becher. Wie seine Romanfigur Trebla setzte er seine Hoffnung zunächst auf die Eidgenossenschaft, die ihm kein Asyl gewährte, obwohl seine Mutter, die Pianistin Elisa Ulrich, Schweizerin war. Wegen des unglücklichen Aufenthalts bei den Eidgenossen hat man „Murmeljagd“ als autobiografischen Roman gedeutet. Klarerweise ist etliches von Bechers Erfahrungen (insbesondere mit der Fremdenpolizei) in das Werk eingeflossen. Aber das eigentliche Vorbild für den Protagonisten des Romans ist der Maler und Buchillustrator Axl Leskoschek, den Becher in Brasilien kennengelernt hatte, wohin beide emigriert waren. Es gibt viele Gründe, warum die Lektüre dieses Romans lohnt. Der banalste: Es ist ein Langzeitschmöker für die Tage gesteigerter Zurückgezogenheit, auch wenn er voller Anspielungen steckt. Die sind nicht immer leicht zu entschlüsseln, aber wer hier nach detailgenauer Auflösung sucht, dem steht eine Website namens www.murmeljagd.ch zur Verfügung. Die Lektüre lohnt aber auch wegen ihres sprachlichen und inhaltlichen Reichtums. Tiefgründige Überlegungen wechseln mit burlesken Momenten, auf gleichermaßen beklemmende wie ironische Beschreibungen bornierter Anhänger des „Kleinhäuslers“ (gemeint ist Hitler) folgen „köschtliche“ Schilderungen alpenländischer Typen. Und dann ist da die Szene, wie ein alter, international gefeierter Star der Manege (Treblas Schwiegervater) dem ruhmesgeilen Sadismus des stellvertretenden KZ-Kommandanten von Dachau ein allerdings bitteres Schnippchen schlägt. Nicht zuletzt lässt sich der Roman als farbige Studie darüber lesen, welche Auswirkungen ein Klima der Angst nach sich zieht. Wie es bis in die letzten Nervenfasern hinein die Wahrnehmung zerfrisst - was bei Albert von *** alias Trebla dazu führt, dass er überall Gefahr wittert. Selbst das Pfeifen von Murmeltieren deutet er als verabredetes Signal von Nazi-Killern, die ihn ermorden sollen.
(Michael Hübl, 2020) Mit freundlicher Genehmigung der Badischen Neuesten Nachrichten (Ausgabe Nr 86 vom 14. April 2020)